Brita Guth-Bodmann

Ohne Zweifel ist das Stillen gut für Kinder, darüber sind sich, glaube ich, alle einig. Aber kann es auch sein, dass Stillen die Entwicklung behindert?

Genau genommen geht es beim “Stillen” um Nahrungsaufnahme, also das Stillen von Hunger oder Durst. Die reichhaltige Muttermilch ist nahrhaft und beugt allen möglichen Krankheitsrisiken vor. Ich brauche hier nicht alle Vorteile aufzählen, darüber gibt es genug Informationen.

Meine Beobachtung ist allerdings, dass es beim Thema Stillen um weit mehr als um Nahrung geht. Für Viele bedeutet es zum Beispiel: Bindung, Sicherheit, Nähe, Trost und Beruhigung. Der Säugling hat natürlich ein Saugbedürfnis und er kann sich durch das Saugen meistens wunderbar beruhigen. Er wird satt, erlebt Nähe und schläft schließlich an der Brust, in den Armen der Mutter, ein. Was in den ersten Lebensmonaten sehr hilfreich und richtig ist, kann jedoch später zum Verhängnis werden!

Warum gewisse Strategien im Säuglingsalter hilfreich sind, dieselben aber später für die weitere Entwicklung hinderlich sein können:

Der Säugling ist die ersten 3 Lebensmonate voll und ganz auf die Hilfe von außen angewiesen, weil er eigentlich physiologisch gesehen eine Frühgeburt ist. Er kann z.B. die Bewegung seiner Extremitäten noch nicht kontrollieren und die Anpassung an das Leben außerhalb des Uterus beschäftigt ihn noch sehr. Das bedeutet, dass sein Umfeld zur Gänze für sein Wohlergehen verantwortlich ist, indem es beispielsweise für regelmäßige Nahrungszufuhr und ausreichend Schlaf sorgt. Er selbst hat noch kaum Kompetenzen, sich selbst zu beruhigen, wenn er sich unwohl fühlt.

Hilfreiche Strategien in den ersten Lebensmonaten sind:

  • Nach Bedarf Stillen
  • Pucken (das Baby in ein Tuch oder eine Decke einwickeln, so dass Arme und Beine am Körper bleiben)
  • im Tragetuch tragen
  • viel Körperkontakt
  • zum Einschlafen wiegen, tragen, stillen
  • schnelles Reagieren auf Signale
Baby schläft im Tragetuch
Baby im Tragetuch

Was tut sich in der Entwicklung des Kindes NACH den ersten 3-4 Lebensmonaten?

Mit der Zeit erkennt der Säugling, dass er eine eigene Person ist und seine Bedürfnisse von einer anderen Person befriedigt werden. Die Entwicklung zum eigenen SELBST beginnt und erstreckt sich über die ersten beiden Lebensjahre. Das bedeutet, dass es immer wichtiger wird, WIE die Bezugspersonen auf das Kind und seine Äußerungen antworten. Die Art und Weise dieser Interaktionen formt eine für die Entwicklung unentbehrliche BINDUNG zwischen Kind und Bezugspersonen. Ausschlaggebend dafür sind Einfühlungsvermögen und Feinfühligkeit im Antwortverhalten auf die Signale des Kindes. Weniger wichtig wird, dass man sofort mithilfe der oben genannten Strategien zur Beruhigung beiträgt und ein Weinen “stillt”. Bedeutsamer werden jetzt Hilfen zum Kennenlernen und Verstehen unterschiedlicher Befindlichkeiten und Strategien, wie man damit umgehen kann.
Ein Gedankenexperiment: Dein Kind ist beim Versuch, über ein Hindernis zu krabbeln, gescheitert und weint.
Wirst du dein Kind anlegen und stillen, weil du weißt, dass es sich so am besten beruhigen wird?
ODER
Wirst du deinem Kind erklären, was passiert ist, wie es sich jetzt fühlt, es im Arm halten und trösten? Ihn/ sie eventuell ermutigen, seine Versuche fortzusetzen?

Wenn du dich für das Stillen entscheidest, hört dein Kind wahrscheinlich schneller auf zu weinen und du erlebst dich als zuverlässige Quelle der Beruhigung für dein Kind.

Wenn du dich dafür entscheidest, dein Kind mit Worten und Körperkontakt ohne Stillen zu beruhigen, kann es sein, dass dein Kind heftiger und länger weint.

Ist das schädlich? NEIN, im Gegenteil! Das Weinen stellt für die Selbstregulation deines Kindes ein wichtiges Ventil dar, bei dem auch andere, teils vergangene Situationen verarbeitet werden können.

Hältst du das Weinen deines Kindes mit ihm gemeinsam aus, erfährt es Zuversicht, dass Zustände des Unwohlseins vergehen.

Welche Entwicklung du durch das Stillen als Antwort auf Anderes, also nicht-Hunger behindern würdest:

  • es lernt unterschiedliche Emotionen kennen
  • es kann Zusammenhänge begreifen
  • es erlebt dich als unterstützende Person
  • es lernt sich selbst besser kennen
  • es reift an Herausforderungen
  • es erlebt, dass man unangenehme Zustände überwinden kann

Wenn das Kind als Antwort auf sein Unbehagen “immer” die Brust bekommt, lernt es weniger von diesen Dingen 😉

Ich spreche allen Müttern Mut zu, das Weinen ihrer Kinder mit Hilfe ihrer Persönlichkeit zu stillen und nicht mit Muttermilch! Ich sage das auch in Hinblick auf das Thema Suchtprävention.

Ab der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres hat die Feinfühligkeit, mit der man auf sein Kind eingeht höchste Priorität für dessen Entwicklung zu einem widerstandsfähigen Menschen. Nicht das sofortige Stillen von Unbehagen ist ausschlaggebend, sondern wie gut man das Kind darin unterstützt, sein Unbehagen verstehen und ertragen zu können!